Forschen

Ich forsche in Drittmittel- und Eigenprojekten zu öko-solidarischen Zukünften jenseits des Wachstums. Den Blick auf Postwachstumskonzepte von vielfältigen Wirtschaftsakteuren verbinde ich mit gesellschaftlichen Debatten um Transformationen und Utopien sowie mit kollektivem Erzählen und Spekulieren. Vier Themenstränge stehen dabei für mich im Fokus:

Die Wirtschaft der Anderen

Unternehmerische Akteure sind vielfältig, auch ihre Motive und Praktiken dafür, im bestehenden wachstumsorientierten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem radikal anders–sozial und ökologisch gerecht, kooperativ, demokratisch und eben wachstumsbegrenzt–zu handeln. Im Sinne des Diverse Economies Ansatzes von J. K. Gibson-Graham arbeite ich daran, diese Unternehmen und Initiativen zu verstehen, sichtbar zu machen und zu stärken–sowie für eine grundlegende Transformation von und mit ihnen zu lernen.

Ausgewählte Projekte

Mit der Pilotstudie Wachstumsneutrale Unternehmen am IÖW öffneten wir den transformativen Degrowth-Diskurs für die Frage, welche Rolle Unternehmen in einem entsprechenden Transformationsprozess zukommen könnte und müsste und welche Unternehmen diese Rolle tatsächlich für sich wahrnehmen. Diese Analysen setzten wir im Projekt Postwachstumspioniere fort und erhoben in Fallstudien und Befragungen die Anlässe, Motive, Strategien und erforderlichen Veränderungsprozesse von KMU, die wachstumsunabhängiger agieren und Postwachstumsbeiträge erbringen wollen.  

Aus dem Projekt und meinen weiteren Arbeiten zum Thema Postwachstum und Unternehmen sind eine Reihe von Veröffentlichungen hervorgegangen: zum Beispiel die Broschüre Wir sind so frei—Elf Unternehmen verabschieden sich vom Wachstumspfad (mit Heike Mewes und Christian Dietsche; open access) und das Paper Towards Growth-Independent and Post-Growth-Oriented Entrepreneurship in the SME Sector mit einer Meta-Interpretation von empirischen Studien zu unternehmerischen Ansätzen für Wachstumsunabhängigkeit und Postwachstumsorientierung.

Das Projekt Ganzheitliches Management von Energie- und Ressourceneffizienz in Unternehmen (MERU) untersuchte Strategien und Methoden, um Rebound-Effekte in Unternehmen zu identifizieren, ganzheitlich zu managen und zu mindern. Anhand von Erkenntnissen aus dem unternehmensbezogenen Postwachstumsdiskurs untersuchte ich dabei, welchen Einfluss die unternehmerische Wachstumsorientierung auf die Entstehung von Rebound-Effekten nimmt und welche Ansatzpunkte zum Management von Rebounds sich aus einer suffizienzorientierten Postwachstumsperspektive ergeben. Die konzeptionellen Überlegungen sind im Diskussionspapier Unternehmensbezogene Rebound-Effekte: Rebound-Vermeidung durch unternehmerische Selbstbegrenzung und Suffizienz zusammengefasst; die im Projekt entstandene Tiefenfallstudie wird in einem Sammelband-Beitrag theoretisch gerahmt und diskutiert: Gebauer, Jana, Niessen, Laura & Gossen, Maike (2024): Self-restraint and sufficiency of a Steel Processor: Countering the Corporate Rebound Effect (beides open access).

Im Aufsatz Transformatives Unternehmertum aus der Postwachstumsperspektive diskutiere ich konzeptionell und empirisch die (mögliche) proaktive Rolle von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in der Transformation hin zu postwachstumsfähigen Regionen und identifiziere Anforderungen und offene Fragen zur weiteren Diskussion von Unternehmertum als Teil der regionalen Akteursvielfalt.

Transformationen und Räume

In Verbindung mit der kritischen Stadt- und Landforschung lassen sich Fragen regionaler Transformation über einzelne Akteure hinausgehend ver–räumlichen. In verschiedenen Projekten und Konstellationen arbeite ich zu städtischen, ländlichen und dörflichen Kontexten. Den Rahmen, um diese Kontexte und Fragen immer wieder zusammenzubringen, erfahre ich ko-kreativ im Spaces beyond Growth: Municipal Degrowth Network.

Ländliche Räume sind zentrale „Versorger“ für ein gutes Leben für alle: Sie sind Orte der Produktion wie der Reproduktion, prägen wesentlich die Bedingungen für unsere existenzielle Verbundenheit mit vielfältigen Lebensformen und -räumen und liefern historisches Know-how und aktuelle Beispiele für degrowth-relevante Praktiken. Zugleich sind sie selbst zunehmend von den allgemeinen Krisen und ganz eigenen Herausforderungen etwa im Umgang damit betroffen. Mit dem Projekt Zukunftsfähiges Dorf 2035, angesiedelt an der Hochschule Hannover bei Henning Austmann, suchten wir nach Qualitäten und Beispielen in zentralen Bereichen wie Gemeinschaft, Energie, Ernährung, Gesundheit, Mobilität oder Arbeit, um Dörfer, Regionen und Stadt-Land-Beziehungen zukunftsfähig zu gestalten.

Zusammen mit der Akademie des Wandels in Flegessen arbeiten wir daran, die Erkenntnisse des Projektes für die Aktiven in ländlichen Räumen erfahrbar und konkret nutzbar zu machen. Ein Beispiel hierfür ist die Broschüre Gemeinsam Zukunft anpacken, die einen realutopischen Blick in das zukunftsfähige Dorf Anpackhausen im Jahr 2035 wirft. Die Texte schrieben Henning Austmann, Patrick Bienstein und ich, die Illustrationen sind von Grit Koalick (open access).

Die demokratische Verfügung über Boden und Gebäude, unabdingbar für eine gemeinsame zukunftsfähige Gestaltung unserer Lebensorte, wird durch die Finanzialisierung des Immobilienmarkts zunehmend beschnitten. Das nGbK-Rechercheprojekt X Properties thematisierte die stadträumlichen Veränderungen, die der Einfluss von Finanzkapital und Finanzmarktakteuren auf den Berliner Immobilienmarkt bedeuten. Dem stellten wir–die Projektgruppe, bestehend aus Joerg Franzbecker, Naomi Hennig, Ines Schaber, Florian Wüst und mir, sowie eine Vielzahl an Partner_innen und Gästen–eine kollektiv entwickelte Perspektive auf eine wünschenswerte Stadt gegenüber. Mit unserer Praxis des gemeinsamen Lernens mit Workshops, moderierten Stadtführungen, Talks, Podcasts und künstlerischen Beiträgen verbanden wir Recherche und Wunschproduktion.

Als Begleitheft erschien eine Ausgabe der Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt: Franzbecker, Joerg, Hennig, Naomi & Wüst, Florian (Hrsg.; 2022): X Properties. Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt #11, die Berliner Fallstudien mit globalen Perspektiven auf die De-/Finanzialisierung der Stadt verbindet.

Initiativen und Prozesse des Commoning erproben genau solche Praktiken und Beziehungsweisen, die der Finanzialisierung etwas Kollektives entgegensetzen und vergesellschaftete Räume gemeinschaffend nutzen und pflegen. In Verbindung mit stadtsoziologischen Perspektiven beschreiben Inga Haese, Andrea Vetter und ich den commonischen Blick auf städtische und ländliche Kommunen und zeigen Beispiele in den verschiedenen Bereichen, in denen wir uns für das gute Leben für alle ver- und umsorgen. (tbc)

Degrowth Enthusiasm and the Eastern Blues

Einen spezifischen räumlichen Blick auf Transformationen nimmt dieses Projekt ein: 2018 starteten drei Degrowth- und Transformationsforschende eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Degrowth Enthusiasm and the Eastern Blues“. Damit verbanden Gerrit von Jorck, Lilian Pungas und ich ein starkes Interesse daran, die post|sozialistischen Umbruchserfahrungen, -kompetenzen und -praktiken der Menschen in Osteuropa und Ostdeutschland für den sozial-ökologischen Transformationsdiskurs zu erschließen–und das Potenzial zu würdigen, das darin jenseits der Erzählung von der Veränderungsmüdigkeit „im Osten“ liegt.

Wir führten Veranstaltungen in sehr unterschiedlichen Kontexten durch, etwa auf der Degrowth-Konferenz in Malmö, der „Große Transformation“-Konferenz in Jena und im Rahmen der Erzählsalons von Rohnstock Biografien in Berlin, mussten weitere Vorhaben jedoch zunächst pandemiebedingt aussetzen. Die Befassung mit dem Thema nimmt vor allem in Osteuropa zu und bietet für uns spannende Vernetzungen. Als Kollektiv sind wir erreichbar unter eastern.blues@mailbox.org.

Eine Zwischenbilanz ziehen wir in unserem Beitrag zum Sammelband von Michael Thomas und Ulrich Busch (Hrsg.; 2021): Streitfall Ostdeutschland. Grenzen einer Transformationserzählung. Unseren Aufsatz mit dem Titel „Degrowth-Enthusiasmus und der Transformations-Blues des Ostens: Überlegungen zur Integration postsozialistischer Transformationserfahrungen in den transformatorischen Postwachstumsdiskurs“ veröffentlichten wir zudem 2023 auf Englisch als IPE working paper No. 215/2023 (open access).

Unleashing Fantasy for Transformation

2018 entdeckten sechs Degrowth-Forschende und -Schreibende in Vorbereitung auf die „Große Transformation“-Konferenz ihre gemeinsame Begeisterung für spekulative Fiction und vor allem die US-amerikanische Autorin Ursual K. Le Guin–und gründeten das Unleashing Fantasy Collective. Seitdem veranstalten wir–Andrea Vetter, Corinna Dengler, Eugen Pissarskoi, Kristina Utz, Matthias Fersterer und ich–Lesungen voll Spekulation und Imagination für das gute Leben für alle: kreativ-künstlerische Formate wie Readers‘ and Writers‘ Rooms, musikalische Lesungen oder Lecture Performances, die wir auf Konferenzen oder als Einzel-Events organisieren. Wir wollen damit Räume öffnen, um unsere Imaginationsfähigkeiten zu erweitern und radikal andere–öko-solidarische, feministisch-emanzipatorische–Gesellschaften zu entwerfen sowie auf ihre Wünschbarkeit und Machbarkeit zu prüfen. Wir sind offen für Mitspekulierende und Anfragen! Mailt gern an unleashing.fantasy@mailbox.org.

Rund ums Utopisieren und Spekulieren entwickelte sich für mich seither ein spannendes Feld transformativen Tätigseins–ob der Impuls voller guter Beispiele auf der Nachhaltigkeitstagung, der Kreativworkshop auf dem Jugendkongress, das gemeinsame Zukunftsvisionieren in der Dorfwerkstatt, eine utopische Intervention für Radiomachende, die Methodenweiterbildung für Multiplikator_innen oderoderoder: Je nach den zeitlichen, inhaltlichen und methodischen Bedürfnisse können wir ganz in unseren Köpfen bleiben und erfahren, wie sich unsere guten Zukunftsvorstellungen beschreiben und lesen lassen. Oder wir stimulieren alle Sinne und entwerfen Zukunftsschnipsel zum Fühlen, Riechen, Schmecken, Hören…

Selbst machen macht Spaß, aber mitmachen ebenso: Es gibt viele spannende Initiativen rund ums Utopisieren und ich lerne immer wieder neue kennen. Wenn es möglich ist, nehme ich daran teil–und dann entstehen gegebenenfalls Texte: in den Projekten oder über die Projekte. Hier sind ein paar Beispiele:

Imagining Otherwise–Fantastische Perspektiven auf Arbeit in der Transformation ist ein Meta-Text: Wenn Utopist_innen in kollektiven Prozessen die sozial-ökologische Transformation imaginieren–was ist dann ihr Blick auf die Arbeit daran und die Arbeit darin? Der Essay erschien zuerst 2022 in einem der drei Jubiläumsbände zum 50jährigen Bestehen der Otto Brenner Stiftung und wurde dann in einer Auskopplung zweitveröffentlicht: Legrand, J., Linden, B. & Arlt, H.-J. (Hrsg.; 2023): Transformation und Emanzipation. Perspektiven für Arbeit und Demokratie, Springer VS, Wiesbaden, S. 11-21 (open access).

Gemeinsam mit dem Umweltphilosophen und Utopisten Philipp Thapa habe ich einen Schwerpunkt der Zeitschrift Ökologisches Wirtschaften zum Thema Utopisieren gestaltet. Wir haben selbst darin geschrieben (die thematische Einleitung und einen konzeptionellen Text zu Qualitäten guten Utopisierens), aber vor allem haben wir spannende Autor_innen versammelt, die über Utopien schreiben oder selbst welche entwerfen. Oder beides. In Ökologisches Wirtschaften 3 (2021): Utopisieren–Zukunftsfähige Ökonomien denken und verwirklichen (open access).

Kaloikostopia Brandenburg 2030 ist eine Kurzgeschichte, die mitten in der Pandemie in einer transatlantischen Online-Collaboration von Künstler_innen, Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen entstand. Sie ist ein Versuch, eine Degrowth-Zukunft zu imaginieren und zwar 2030 hier um die Ecke in Brandenburg: (Wie) Würde dann eine Vielfalt an sehr eigenen Communities gemeinsam (!) einen Weg finden, wirklich solidarisch, gerecht, demokratisch, feministisch, emanzipatorisch, öko-suffizient, post-kapitalistisch und dekolonial mit den Auswirkungen der Polykrise umzugehen? Die Geschichte ist ein Methoden-Mix-Experiment, das aus unserem spannenden Prozess hervorging–und sie endet … mit einem Anfang. Mehr zum Projekt von Lisa Pettibone und Dylan Harris bei ACUD MACH NEU: ein gemeinsames Zine und die abschließende Online-Ausstellung (open access).